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«Bei den Kunsthochschulen können wir uns viel abschauen»
Deborah Berke im Gespräch mit Vitra Magazin
Die bekannte New Yorker Architektin Deborah Berke entwirft mit den 11 Partnern und 50 Mitarbeitern in ihrem Büro öffentliche Gebäude und Privathäuser. In ihrer über dreissigjährigen Laufbahn war sie stets auch in der Lehre tätig und ist seit 2016 Dekanin der Fakultät für Architektur an der Yale University. Hier spricht sie darüber, was man aus der Pandemie lernen kann und was das für die architektonische Praxis bedeutet.
Der Raum wurde also neu bestimmt, kollektiv. In den letzten Monaten ist wieder mehr Leben auf der Strasse. In meinem Viertel zum Beispiel trainieren viele Fitness-Trainer angesichts geschlossener Studios mit ihren Kunden an Baugerüsten. Als Architekten und Designer könnte uns das zu der Erkenntnis anregen, dass es sehr viel mehr Möglichkeiten gibt, den Raum zu bewohnen oder zu nutzen, als uns bisher bewusst war. Es könnte uns dazu anregen, umfassender darüber nachzudenken, wie öffentlicher Raum genutzt und geplant werden kann.
In einem Gespräch mit dem Journalisten und Autor Kyle Chayka, der seine Recherchen während dem Vitra Summit vorstellte, hast du erwähnt, dass die Pandemie bei dir und deinem Team zu wichtigen neuen Erkenntnisse geführt hat. An was denkst du da im Besonderen?
Ich will ein Beispiel geben. Als die Pandemie auf ihrem Höhepunkt war, lehnten sich die Leute hier in New York und an vielen anderen Orten der Welt jeden Abend um 19 Uhr aus dem Fenster, stellten sich auf die Feuertreppe oder gingen auf das Dach und trommelten mit Töpfen und Pfannen. In erster Linie war das natürlich als Dank an die Menschen im Gesundheitswesen, an die Pfleger und Ärzte gemeint. Aber es ging auch noch um etwas Anderes. Es ging auch darum, den Strassenraum zu bestimmen und zu sagen, «Der öffentliche Raum gehört uns. Wir können jetzt zwar nicht hinausgehen, aber wir können ihn mit Schall füllen und ihn so für uns beanspruchen.»Der Raum wurde also neu bestimmt, kollektiv. In den letzten Monaten ist wieder mehr Leben auf der Strasse. In meinem Viertel zum Beispiel trainieren viele Fitness-Trainer angesichts geschlossener Studios mit ihren Kunden an Baugerüsten. Als Architekten und Designer könnte uns das zu der Erkenntnis anregen, dass es sehr viel mehr Möglichkeiten gibt, den Raum zu bewohnen oder zu nutzen, als uns bisher bewusst war. Es könnte uns dazu anregen, umfassender darüber nachzudenken, wie öffentlicher Raum genutzt und geplant werden kann.
Was bedeutet das für die architektonische Praxis?
Durch die Pandemie sind wir alle gezwungen, ein neues Verhältnis zu unserem Lebensumfeld zu entwickeln – zur Wohnung, in der wir nun auch arbeiten oder allgemein mehr Zeit verbringen, zum Arbeitsplatz und zum öffentlichen Raum. Als Architekten können wir daraus lernen, auch andere Impulse und Anregungen sehr viel bewusster wahrzunehmen und in der Praxis aufzugreifen. Nehmen wir die Gallaudet University in Washington D.C. als Beispiel: Sie wurde vor 150 Jahren gegründet und ist die einzige Hochschule für Gehörlose und Schwerhörige in den USA. Die Türglocke dort war früher ein Bleigewicht, das auf den Boden fiel, wenn jemand «klingelte». Die Bewohner spürten die Erschütterung und wussten Bescheid. Vor ungefähr zehn Jahren entstand an der Gallaudet University eine Design-Initiative namens DeafSpace.Die darin vertretenen Wissenschaftler wollten eine neue Herangehensweise an Architektur entwickeln, die darauf beruhte, wie Gehörlose Raum wahrnehmen und sich darin bewegen und welche Anpassungen sie schon immer an einer Umgebung vorgenommen haben, die im Wesentlichen auf Hörende ausgerichtet ist. Diese neue Herangehensweise ist jedoch nicht nur für Gehörlose interessant, sondern für alle möglichen Menschen. Schwingungen im Fussboden oder auch Lichtsignale sind einfach vollkommen andere Reize. Durch die Pandemie mussten wir uns alle sehr schnell an neue Formen des Umgangs mit dem Raum und mit einander gewöhnen. Hier in meinem Architekturbüro haben wir die unterschiedlichen Bereiche, in denen wir arbeiten, bisher vollkommen getrennt betrachtet: Wir entwerfen Wohnhäuser, Bürogebäude sowie Schulen und Universitäten. Allmählich scheint uns aber klar zu werden, dass die Unterschiede zwischen diesen Bautypologien jetzt verschwimmen. Die Pandemie gibt uns die Möglichkeit, unsere Praxis zu hinterfragen und die verschiedenen Bereiche füreinander fruchtbar zu machen.
Wie hat diese neue Herangehensweise deine praktische Arbeit beeinflusst? Kannst du ein Beispiel geben?
In meinem Büro haben wir uns viel bei den Kunsthochschulen abgeschaut – als Musterbeispiel und Impulsgeber für alle möglichen Räume, egal ob Wohn- oder Arbeitsräume. Dafür gibt es viele Gründe: Erstens gibt es an einer Kunsthochschule immer unterschiedlich grosse Räume für Einzelarbeit und Gruppenarbeit. Wer an einer Kunsthochschule studiert, arbeitet manchmal ganz für sich allein, manchmal aber auch in einer Gruppe, etwa um eigene Arbeiten zu zeigen und zu besprechen oder Ideen auszutauschen. Zweitens muss alles ziemlich flexibel sein.Kunsthochschulen sind so gebaut, dass man die Räumlichkeiten je nach Bedarf umgestalten kann. Drittens ist alles sehr robust, man kann Dreck machen und Nägel in die Wand schlagen. Viertens ist Tageslicht sehr wichtig. Und so weiter. Solche Räume sind für uns so interessant, weil es vor allem um die Nutzung geht. Denn im Zuge dieser Pandemie wird immer deutlicher, dass unsere Räume flexibler und anpassungsfähiger sein müssen, damit wir sie für alles Mögliche nutzen können – von der Telearbeit bis zum Familienleben, im Alltag und bei besonderen Anlässen.
Denkst du dabei an ein bestimmtes Gebäude?
Da fällt mir ein Projekt ein, das mein Büro gerade fertigstellt. Wir haben das grosse Glück, dabei mit dem afro-amerikanischen Künstler Titus Kaphar zusammen arbeiten zu dürfen. Er hat gemeinsam mit einigen anderen ein Artist-in-Residence-Programm in New Haven ins Leben gerufen. Es nennt sich NXTHVN (sprich: Nexthaven). Die Künstler bekommen jeweils eigene Ateliers, aber es gibt auch eine Galerie und Gemeinschaftsräume. NXTHVN ist schön und schmuddelig zugleich – und es scheint mir ein Ort zu sein, an dem wir alle glücklich bis ans Ende unserer Tage leben könnten. Es ist nicht makellos, aber man kann dort fast alles machen. Ein Dreijähriger kann sich dort glücklich fühlen, ein 93-Jähriger auch – so kann man das auch gut beschreiben. Ein guter Raum nimmt die Bedürfnisse aller Nutzer auf. Ich würde sagen, NXTHVN ist wahrscheinlich der vollkommene Ort, von dem wir alle lernen können.Falls Sie eine Vitra Summit Session verpasst haben, oder eine, die Sie besonders interessant fanden noch einmal wiederholen möchten, sind die Aufnahmen auf Englisch, Deutsch, Französisch, Mandarin und Japanisch noch bis Montag, 2. November 2020 auf summit.vitra.com verfügbar.
Veröffentlichungsdatum: 29.10.2020
Bilder: © Deborah Berke Partners NXTHVN; Winnie Au;