Khudi Bari

Ein Interview mit der Architektin Marina Tabassum

In Bangladesch zwingen Überschwemmungen, die als Folge klimatischer Veränderungen unvorhersehbar werden, regelmässig hunderttausende von Menschen, ein neues Zuhause zu suchen. Vor diesem Hintergrund haben Marina Tabassum und das Team ihres Architekturbüros MTA das Konzept Khudi Bari – «kleines Haus» – entwickelt. Im Interview beleuchtet Marina Tabassum die architektonischen Hintergründe, aber auch ihr Engagement.

Was war die Inspiration für das Projekt Khudi Bari?

Inspiration für dieses mobile Haus war der in Bangladesch traditionelle Baustil. Die Strukturen des Khudi Bari werden wie ein Flatpack-System erstellt und normalerweise entlang der majestätischen Flüsse Padma, Jamuna und Meghna gebaut. Gespeist von der Gletscherschmelze des Himalaya-Gebirges und dem saisonalen Monsunregen führen diese Ströme oft plötzlich riesige Wassermengen und ihre starke Strömung erodiert die Ufer. Die Khudi Baris bestehen aus Bambusrahmen und Wellblechfassaden und -dächern, die nach der Überschwemmung von ihren Besitzern abgebaut, versetzt und wieder aufgebaut werden können, sobald diese einen neuen Platz für ihre Häuser gefunden haben. Die strukturelle Idee wurde von der geodätischen Kuppel übernommen, ist aber in der Ausführung einfacher. Wir haben einen starren Rahmen entwickelt, aber mit minimalen Strukturelementen, um die Kosten tief zu halten.

Erzählen Sie uns, wie der Lockdown während der Pandemie die Gestaltung und Entwicklung von Khudi Bari beeinflusst hat?

2019 führte das MTA-Team Forschungsarbeiten zur Erosion von Flussufern in den Küstengebieten von Bangladesch am Golf von Bengalen durch. Die Forschung befasste sich primär mit den Auswirkungen der globalen Erwärmung auf vertriebene Bevölkerungsgruppen und die Rechte künftiger Generationen. Während der Forschungsarbeiten besuchten wir die Sandbänke in den Flüssen, auf denen vertriebene Gemeinschaften leben. Sandbänke sind kein dauerhaftes Land; sie sind Ablagerungen, die sich in Zeiten geringer Strömung bilden und ihre Form verändern oder weggeschwemmt werden, wenn die Strömung ansteigt. Für landlose Gemeinschaften mit sehr niedrigem Einkommen bieten diese Sandbänke eine Zuflucht, um ihr Leben aufbauen zu können. Wir wollten ein Haus entwickeln, das transportabel und dennoch preiswert ist. 2020, als die Welt mit der Covid-Pandemie zu kämpfen hatte und unsere Auftragsarbeiten ins Stocken gerieten, hatten wir Zeit, weiter an der Idee eines mobilen modularen Hauses zu arbeiten, und wir nannten es Khudi Bari (kleines Haus).

Was waren die grössten Hindernisse bei der Gestaltung von Khudi Bari?

Der Entwurfsteil war nicht schwierig. Nach ein paar Durchläufen einigten wir uns auf eine Idee und begannen mit dem Bau. Das erste Haus wurde in Dhaka errichtet. Dann wandten wir uns Char Hijla zu, wo wir zuvor eine Studie über die erwähnte Erosion von Flussufern durchgeführt hatten. Von Anfang an wollten wir die Technik, mit der das Khudi Bari gebaut wurde, weitergeben und allgemein zugänglich machen, damit sie in die landestypische Baukultur integriert wird. Diese direkte Zusammenarbeit mit den vertriebenen Gemeinschaften ist unser Hauptaugenmerk, aber auch die grösste Herausforderung. Ich würde sie nicht als Hindernis bezeichnen, aber es hat ein gewisses Lernen und Verlernen von uns als Architekten erfordert. Wir arbeiten mit der Methodik von Sozialanthropologen. Die Orte sind schwer zu erreichen, da sie sich inmitten riesiger Flüsse befinden. Es gibt keine Infrastruktur, kein Strassennetz, keine Elektrizität, manchmal nicht einmal einen schattenspendenden Baum. Das kann für das Team sehr anstrengend sein. Aber wenn wir den Hausbesitzern ihre Zertifikate überreichen, sind alle Schwierigkeiten vergessen. Das ist immer ein Tag zum Feiern.

Warum haben Sie Bambus und Stahl für die strukturellen Verbindungen gewählt?

Wir haben uns für Bambus entschieden, weil er überall in Bangladesch wächst und auf den lokalen Märkten verkauft wird. Er ist nicht teuer und kann, wenn nötig, einfach ausgetauscht werden. Die Stahlverbindungen, die die Struktur halten, sind einfache Abstandsrahmen. So können die Konstruktionen flexibel abgebaut und versetzt werden. Die Hausbesitzer sind landlos, das heisst, sie haben keine Rechte an dem Land, auf dem sie ihre Häuser bauen. Mobilität ist darum ein entscheidender Teil ihres Lebens.

Wie wirkt sich die Verwendung lokaler Baumaterialien auf die Kosten und die CO2-Bilanz aus?

Wir haben keine Berechnung des CO2-Fussabdrucks durchgeführt. Das Einzige, was unser Team mitbringt, sind die Stahlverbindungen, denn die werden nicht vor Ort hergestellt. Alles andere ist auf dem nächstgelegenen Festland erhältlich – einschliesslich Bambus, Metalldächer und Holzbretter. Dank der Beschaffung von Komponenten vor Ort sinken die Transportkosten drastisch und es wird auch noch die lokale Wirtschaft unterstützt. Ein einziges Khudi Bari kostet derzeit 500 Dollar, Arbeit und Transport inklusive. Nur die Kosten für unser Team sind darin nicht enthalten. Im Idealfall wollen wir ein System schaffen, das sich selber trägt, und bei welchem Hausbesitzer, örtliche Bauunternehmer und Lieferanten zusammenarbeiten, um Khudi Baris ohne die Anwesenheit unseres Teams bauen zu können.

Warum eignet sich das Khudi Bari besonders gut für die Randgruppen, die in den Sandbetten der Meghna leben?

Khudi Bari benötigt kein schweres Fundament und es kann durch Zerlegen und Wiederzusammenbau leicht versetzt werden. Es hat zwei Ebenen, so können die Menschen bei Überschwemmungen im oberen Stockwerk Schutz suchen. Dank seiner Modularität kann das System kombiniert und vergrössert werden. In den Rohingya-Flüchtlingslagern haben wir mit Khudi Bari ganze Gemeinschaftszentren gebaut.

Haben Sie schon Rückmeldungen von den Gemeinschaften, die Khudi Bari nutzen?

Die Dorfbewohner schätzen besonders, dass das Khudi Bari ein zweistöckiges Haus ist. Sie lieben das obere Stockwerk und nutzen es als Schlafbereich. Es gibt zwei gegenüberliegende Öffnungen, um die Belüftung zu ermöglichen. Die Leute lieben es, am Fenster zu sitzen, wenn die Brise hereinweht. Und vom Fenster im Obergeschoss aus können sie weit über die Flüsse sehen – das ist für die meisten etwas Neues. Viele Hausbesitzer haben ihre Häuser erweitert und ein Zimmer oder eine Küche hinzugefügt. Es ist schön für uns, die Veränderungen und Anpassungen zu sehen.

Beziehen Sie die gefährdeten Bevölkerungsgruppen in den Bauprozess der Khudi Baris ein?

Bevor ein Bau beginnt, gibt es jeweils einen langen Vorbereitungsprozess. Da es sich um ein neues System handelt und wir möchten, dass die Gemeinschaften die Technik des Auf- und Abbaus erlernen, führen wir eine Reihe von Workshops, Treffen und Aktivitäten zur Einbindung der Gemeinschaft durch, darunter eine Kartierung des Dorfes, Modellbau-Workshops mit der Khudi-Bari-Struktur, Workshops zum Lebensunterhalt und eine Vermögensberechnung auf der Grundlage des täglichen Einkommens. Die Gemeinde wird jeweils in den Entscheidungsprozess einbezogen, auch in die Auswahl der zehn ersten Khudi-Bari-Besitzer-Familien. Am Bauprozess nimmt die Gemeinde gemeinsam mit unserem Team teil.

Wie kann das Konzept Khudi Bari die Baupraktiken in Bangladesch beeinflussen?

Zusammen mit den lokalen Behörden, den Lieferanten, den Bauunternehmern, den Zimmerleuten und der Gemeinschaft wollen wir die Grundlagen eines sich selbst tragenden «Ökosystems» schaffen, das auch den Frauen ein Einkommen erlaubt und ihren Lebensunterhalt sichert. Im Moment konzentrieren wir uns auf die Entwicklung dieses Ökosystems. Wir hoffen, dass die Menschen kreative und innovative Wege finden werden, sich die Khudi-Bari-Idee anzueignen.

Welche Art von Dialog und Engagement ist Ihrer Meinung nach entscheidend für den Erfolg von Projekten wie Khudi Bari?

Jeder Eingriff in die typische Landschaft kann nicht ohne spontane Akzeptanz durch die Nutzerinnen und Nutzer erfolgen. Khudi Bari ist zwar ein neues System, aber sobald die Fassaden angebracht sind, sieht es aus wie ein normales Haus in einer bengalischen Landschaft. Für uns war es vorrangig, eine Form zu schaffen, mit der die Menschen etwas anfangen können. Es ist unabdingbar, in einen direkten Dialog mit den Gemeinschaften zu treten, um ihre Bedürfnisse und Wünsche zu verstehen. Man muss zuhören und darf sich nicht aufdrängen, man muss eine Beziehung zur Gemeinschaft aufbauen, die auf Vertrauen und gegenseitigem Respekt beruht.

Veröffentlichungsdatum: 26.06.2024, zuerst veröffentlicht in «La Repubblica»
Autor: Caterina Annie Canova
Bilder: 1., 2., 3., 4. © Vitra, Foto: Julien Lanoo; 5. © Marina Tabassum Architects; 6. NASA; 7., 8. © Marina Tabassum Architects, Foto: City Syntax; 9., 11. © Marina Tabassum Architects, Foto: Asif Salman; 10. © Marina Tabassum Architects, Illustration: Kazi Akif Akash; 12. © Vitra, Foto: Dejan Jovanovic